Fortuna Esther
Fortuna Esther (2013)
Lecture Performance von Françoise Caraco + Nicole Biermaier, anlässlich der Ausstellung Fergangenheit, Fake, Fiktion, Corner College Zürich
In meiner Lecture Performance erzähle ich, wie ich am Beispiel eines persönlichen Familienfotos erfahren muss, wie schwierig es sein kann, im Nachhinein die Existenz verstorbener Personen zu rekonstruieren, wenn deren Geschichte lückenhaft ist.
Ich bin auf zwei Fotos einer mir Verwandten Frau gestossen, mit jeweils unterschiedlicher Identifizierung -einmal als Fortuna, einmal als Esther. Es entsteht Zweifel daran, dass die Fotografie, als Beweismittel als Identitätsstiftende Kraft dienen kann.
Dass es Fortuna und Esther gegeben hat, daran besteht kein Zweifel, beide sind erwähnt in Grossvaters Ahnenschrift, ebenfalls sind beide Frauen aufgelistet in einer Shoah-Datenbank. Doch welche von beiden Frauen mir jetzt auf dem Foto gegenübersitzt und den jungen Moïse in den Armen hält, bleibt unklar.
Familienfotos I,II,III (version1)
Familienfotos I, II, III, (2013)
I: Videoprojektion, HD 16:9, Zeitdauer 2' 33", loop
II: 26, A5 Karteikarten, Laser-print auf Papier
III: Audiostück, Zeit 5' 30", loop, gesprochen von Esther Becker
Françoise Caraco setzt sich mit der Lebensgeschichte ihrers Grossvaters auseinander. Die Vertiefung in die persönliche Familiengeschichte stellt dabei für die Künstlerin eine Geste der Aufschliessung dar: Sie dient ihr als Anlass, die Umstände des Öffentlichen und Politischen einer vergangenen Zeit zu rekonstruieren und reflektieren. Françoise Caraco erstellt in der Arbeit Familienfotos eine Versuchsanordnung, und thematisiert die Grenzziehungen der familiären und gesellschaftlichen Zugehörigkeit. Sie verwendet dazu Portraitbilder und Informationsbruchstücke aus Briefen von 1904 bis 1941, die ihr Grossvater, Sohn eines sefardisch-jüdischen Einwanderers aus Istanbul, aufbewahrt hatte.
Familienfotos ist eine räumliche Installation, in der Françoise Caraco eine Sammlung von Fotografien und Textfragmenten aus dem Nachlass ihres Grossvaters inszeniert. Aus ihrer heutigen Perspektive wiederholt Caraco den Versuch ihres Grossvaters, sich anhand von Familienfotos und Schriftstücken der Gegenwärtigkeit seiner Verwandten zu vergewissern. Als Ausgangsmaterial für Caraco dienen Fotografien, Postkarten und Briefkorrespondenz, die sich die weltweit verstreuten Verwandten von ihrer jeweils neuen «Heimat» zugesandt hatten. In Caracos Inszenierung werden sie zu Zeitdokumenten, die wenig über die konkreten Lebensumstände der Familie verraten und mehr Fragen über die Lage des Öffentlichen aus intimer Perspektive aufwerfen.
Die Künstlerin hat das vorhandene und lückenhafte Archivmaterial vom Anfang des 20. Jahrhunderts sorgfältig überprüft, inhaltlich interpretiert und formal verwandelt. Übliche schwarz-weisse Familieportraits aus dieser Zeit, hat sie in kurze Texte übersetzt. In diesen Texten versucht sie beschreibend die Beziehungen zwischen den abgebildeten Personen untereinander und mit dem ebenfalls abgebildeten Kontext zu rekonstruieren. Schriftliche Angaben zu Daten und Ortschaften, aus denen die jeweiligen Bilder stammen, hat Caraco von einer Schauspielerin in Form einer trockenen Auflistung laut vorlesen lassen. Die leeren Rückseiten der Fotos, auf denen die Mitglieder der Verwandtschaft abgebildet sind, hat sie zu abstrakten Bildern gemacht, die sie - in Abwechslung mit Textfragmenten aus der Briefkorrespondenz – auf einer Wand projiziert. Durch diese drei verschiedenen Formen der Übersetzung rekonstruiert Caraco Beziehungen und Zusammenhänge, die ein neues gegenwärtiges Bild einer Vergangenheit erschaffen. Die leeren Rückseiten und die fragmentierten Texte weisen aber auch auf Verlust und Lücke hin.
In der Arbeit Familienfotos befragt Caraco im weitesten Sinne das Medium Fotografie, als dokumentarische Form. Was kann Fotografie überliefern und wie? Welche sind ihre Wahrheitsansprüche und Möglichkeiten? Caraco versteht die Fotografie als Dokument, welches nicht immer leicht lesbar ist. So waren für sie die Fotografien aus dem Nachlass ihres Grossvaters anfangs nicht entschlüsselbar. Die darauf abgebildeten Personen konnte sie weder erkennen noch einordnen. Ausgehend aus gleichem Quellmaterial, in dem Versuch dieses lesbar zu machen, hat Caraco drei verschiedene Formen der Übersetzung erarbeitet, welche die flüchtigen Dokumente mit neuer Konsistenz versehen. Ob sich aus diesen Übersetzungen eine persönliche Vergangenheit zusammensetzen lässt bleibt offen: Handelt es sich nicht doch lediglich um eine konstruierte Wirklichkeit, eine Fiktion? An diesem Punkt stossen wir wieder auf ein von Hito Steyerl ans Licht gebrachtes Paradox: «Der Zweifel an ihren Wahrheitsansprüchen macht dokumentarische Bilder nicht schwächer sondern stärker».
Text: Irene Grillo, 2013