Vergessen und Erinnern
Auschnitt des Videos, Vergessen und Erinnern, HD 16:9
Vergessen und Erinnern (version 3, 2017)
Video, HD 16:9, Zeitdauer 7‘ 56“, Loop, Farbe, Ton
Denkt Françoise Caraco an ihr Jahr in Paris zurück, sagt sie: „Ich empfinde Heimweh für diese Stadt, in der ich mich ein Jahr lang fremd gefühlt habe“. Eine Folge von 50 Aufnahmen wird projiziert und aus dem Off kommentiert. Caraco, für die Paris nur ein temporärer Aufenthaltsort geblieben ist, erzählt aus der Ich-Perspektive, kommentiert spontane Eindrücke und stellt singuläre Momente allgemeinen Situationen gegenüber: „Mein Atelier im Sonnenschein, sonst hat es fast immer geregnet. “ oder fügt lapidar an: „Es gibt Fotos, die mag ich einfach“.
Insgesamt sind es 1900 Fotos, „leicht und schnell“ mit einem Smartphone aufgenommen. Es tritt der Effekt ein, dass nicht mehr jede Aufnahme erinnert wird, nicht der Ort, nicht die Stimmung, nicht die eigenen Anwesenheit dort. Bekannt ist auch der Effekt, dass wir vor Ort anderes empfinden, als im Nachhinein beim Sichten der Fotos. Das Fremde ist in den Fotografien angeeignet, mit eigenen Erinnerungen ergänzt, ist vorübergehend Teil des Eigenen gewesen, und spiegelt sich schließlich in der Arbeit wider, die Françoise Caraco unter dem Titel „Vergessen und Erinnern“ realisiert hat.
Text: Ruth Horvak
Drancy, mémoires à vif (deutsch)
Ausschnitt Video, Drancy, mémoires, à vif
Drancy, mémoires à vif, 2015
Video, HD 16:9, Zeitdauer 13' 44", Loop, Farbe, Ton
Seit einigen Jahren befasst sich Françoise Caraco in ihren Arbeiten mit der Familiengeschichte. Als Nachfahrin einer um die Jahrhundertwende nach Basel immigrierten jüdischen Familie ist auch ihre Geschichte vom Holocaust geprägt, der mehrere Vorfahren das Leben gekostet hat. Die Künstlerin interessiert die Verstrickung von persönlicher Geschichte, imaginärer Geschichte und kollektivem Geschichtsbewusstsein. In der gegenwärtigen Arbeit folgt sie wie viele Nachkommen jüdischer Familien den Spuren ihrer Herkunft. Briefe, Fotografien, Erzählungen und Dokumente führten sie in das bei Paris gelegene Sammellager von Drancy, das beinahe alle französischen Juden vor der Deportation durchliefen.
Die einmalige Systematik des Genozids – das unentrinnbare Netz bürokratischer Rationalität der Judenverfolgung – spiegelt sich geradezu im rationalistischen Modernismus des Wohnbaus (Cité de la Muette), der schon vor der Machtübernahme in Frankreich als Gefängnis umgenutzt wurde. Der für Architekturhistoriker bedeutende, damals von der Vichy-Regierung als Sammellager genutzte Baukomplex wird heute bewohnt: Im Bau befinden sich jetzt, wie ursprünglich vorgesehen, Sozialwohnungen. Vor dem Hof des U-förmigen Gebäudekomplexes wurden über die Jahrzehnte hinweg verschiedene Gedenkeinrichtungen installiert, bis zuletzt ein von der französischen Bahn gestifteter Deportationswaggon hingestellt wurde.
Erst 2012 eröffnete auf der Strassenseite gegenüber eine sehr aufwändig eingerichtete, von François Hollande inaugurierte Shoah-Gedenkstätte. Der dafür errichtete Neubau wurde aus den Mitteln nachrichtenloser Vermögen finanziert.
Beim Gang durch den vom Alltag beherrschten Hof hinter dem Deportationswaggon ist viel imaginäre Arbeit verlangt, um sich vorzustellen, was hier einmal geschehen ist. Realitäten, Zeiten kreuzen sich. Der bewohnte Baukomplex ist nicht begehbar. Françoise Caraco meint, im heruntergekommenen Park am Ende des Hofes am ehesten eine Stimmung einfangen zu können. Die Grünanlage wird kaum benutzt, sieht ungepflegt aus, als herrschte hier eine seltsame Berührungsangst, Scham. Die Schablonen vorgefertigter Narrative, auch der von historischen Aufnahmen vorkonfigurierte Blick vermitteln sich stets an der vagen Kenntnis der Geschichte der eigenen Vorfahren und den daraus gemachten Vorstellungen; auch am Jetzt körperlicher Anwesenheit: Diese Vermittlung resultiert, wie die Videoarbeit zeigt, in einem stillen und persönlichen Nachdenken und Umherblicken. Ein «aktives Gedenken», in dem sich greifbar eine Folge des Holocaust für die Nachfahren destilliert: Ein paranoisch flüsterndes – überall da draussen flüsterndes – Selbstgespräch; ein Blick, dem die Welt düster antwortet: ein Unbehagen in der Kultur. Die Künstlerin findet mit ihrer Arbeit eine stabile Form für diesen netzförmigen Schatten auf der Realität. Als «Vierteljüdin» wäre sie, die für die Nachforschungen samt Familie für ein Jahr nach Paris gezogen ist, gemäss Nürnberger Gesetze ebenfalls verfolgt und deportiert worden.
Text: Oliver Caraco