Distance in your eyes
Distance in your eyes, 2017
Video, HD, 16:9, Zeitdauer 2‘ 52“, Loop, Farbe/ s/w, Ton
Im Video Distance in your eyes verbindet Françoise Caraco Fotos und Erinnerungen an ihren Besuch in Israel in den 1990er-Jahren mit der Videoaufnahme ihrer Busfahrt durch das heutige Jaffa. Zwischen Caracos Reisen liegen 20 Jahre und es treffen widersprüchliche Erzählweisen zu diesem Land aufeinander. Keine von diesen könnte durch eine andere letztlich ersetzt werden. Wenn Françoise Caraco den Reiserinnerungen ihres 19-jährigen Selbst begegnet, sind diese weiterhin gültig, wenn auch weit entfernt.
Grossvaters Dokumente
Audioarbeit: Grossvaters Dokumente, 2015
Grossvaters Dokumente, 2015
Rauminstallation, 2 Videoprojektionen, Audioarbeit und Transkript
Video, HD 16:9, 16'29''/ 20'23'', Audio, 9'54'' gesprochen von Esther Becker
Das Ich in der Geschichte
Das Bild wäre gleich. Würde sich eine Historikerin bei der Arbeit von hinten filmen, sähe das wohl ähnlich aus, wie in der Zweikanal-Videoinstallation von Françoise Caraco: Recherche vor dem Computer, nach Quellen, Informationen, Hinweisen, die dann zu einer historischen Erzählung zusammengefügt werden. Was also unterscheidet eine Künstlerin wie Françoise Caraco von einer Historikerin? Genau dass sie sich eben bei der Arbeit filmt, während eine Historikerin die von ihr erzählte Geschichte für sich sprechen lässt, vielleicht am Ende gar hinter dieser Geschichte verschwinden kann. Heute mag klar sein, dass nicht nur Geschichten geschrieben werden, sondern auch die Geschichte. Von vermeintlich allwissenden Erzählerfiguren, aus einer bestimmten Perspektive, mit ganz bestimmten Interessen. Doch wird das Fach Geschichte bisweilen immer noch gelehrt, als sei ihr Text von einer übermenschlichen Instanz in Stein gemeisselt.
Françoise Caraco steht einer Historikerin in nichts nach. Aus einem Transkript ihrer Begegnung mit einer Mitarbeiterin eines Pariser Archivs, das es sich zum Ziel gemacht hat, Quellenmaterial zu verschollenen jüdischen Personen zu sammeln, wird ersichtlich, mit welcher Genauigkeit Caraco während ihres Aufenthalts in Frankreich nach französischen Verwandten ihres Grossvaters recherchiert hat. Die von ihrem Grossvater hinterlassenen Fotografien und Schriftstücke sind nun auch Teil des Archivs. Und doch ist Caraco keine Historikerin. Denn Caraco erzählt Geschichte in der Ich-Form – in einem auf Kopfhörer zu hörenden Text. Sie geht in dieser Erzählung selbst an der «mur des noms» des Mémorial de la Shoah – das gleich gegenüber ihres temporären Pariser Ateliers liegt und das sie ebenfalls filmisch zeigt – vorbei und liest die dort eingemeisselten Namen Verschwundener. Und sie zeigt sich eben selbst bei der Arbeit. Caraco schreibt das Ich in Geschichte gross.
KünstlerInnen haben von HistorikerInnen viel gelernt. Doch was könnten HistorikerInnen von KünstlerInnen lernen? Zum Beispiel, dass das Medium Video, das in dieser Ausstellung vorherrscht, auch zum Erzählen von Geschichte dienen kann. Und dass man sich hinter einer Kamera genauso gut verstecken kann, wie hinter einer autoritären Autorschaft, die die erste Person ausschliesst. Aber nicht muss, wie Françoise Caraco in Text und Film zeigt.
Text: Daniel Morgenthaler
Familienfotos I, II, III
Audiostück: Familienfotos III, 5' 32'', im loop
Ausschnitt Video: Familienfotos I, HD 16:9, 2:33 min
Familienfotos I, II, III, (2013)
I: Videoprojektion, HD 16:9, Zeitdauer 2' 33", loop
II: 26, A5 Karteikarten, Laser-print auf Papier
III: Audiostück, Zeit 5' 30", loop, gesprochen von Esther Becker
Françoise Caraco setzt sich mit der Lebensgeschichte ihrers Grossvaters auseinander. Die Vertiefung in die persönliche Familiengeschichte stellt dabei für die Künstlerin eine Geste der Aufschliessung dar: Sie dient ihr als Anlass, die Umstände des Öffentlichen und Politischen einer vergangenen Zeit zu rekonstruieren und reflektieren. Françoise Caraco erstellt in der Arbeit Familienfotos eine Versuchsanordnung, und thematisiert die Grenzziehungen der familiären und gesellschaftlichen Zugehörigkeit. Sie verwendet dazu Portraitbilder und Informationsbruchstücke aus Briefen von 1904 bis 1941, die ihr Grossvater, Sohn eines sefardisch-jüdischen Einwanderers aus Istanbul, aufbewahrt hatte.
Familienfotos ist eine räumliche Installation, in der Françoise Caraco eine Sammlung von Fotografien und Textfragmenten aus dem Nachlass ihres Grossvaters inszeniert. Aus ihrer heutigen Perspektive wiederholt Caraco den Versuch ihres Grossvaters, sich anhand von Familienfotos und Schriftstücken der Gegenwärtigkeit seiner Verwandten zu vergewissern. Als Ausgangsmaterial für Caraco dienen Fotografien, Postkarten und Briefkorrespondenz, die sich die weltweit verstreuten Verwandten von ihrer jeweils neuen «Heimat» zugesandt hatten. In Caracos Inszenierung werden sie zu Zeitdokumenten, die wenig über die konkreten Lebensumstände der Familie verraten und mehr Fragen über die Lage des Öffentlichen aus intimer Perspektive aufwerfen.
Die Künstlerin hat das vorhandene und lückenhafte Archivmaterial vom Anfang des 20. Jahrhunderts sorgfältig überprüft, inhaltlich interpretiert und formal verwandelt. Übliche schwarz-weisse Familieportraits aus dieser Zeit, hat sie in kurze Texte übersetzt. In diesen Texten versucht sie beschreibend die Beziehungen zwischen den abgebildeten Personen untereinander und mit dem ebenfalls abgebildeten Kontext zu rekonstruieren. Schriftliche Angaben zu Daten und Ortschaften, aus denen die jeweiligen Bilder stammen, hat Caraco von einer Schauspielerin in Form einer trockenen Auflistung laut vorlesen lassen. Die leeren Rückseiten der Fotos, auf denen die Mitglieder der Verwandtschaft abgebildet sind, hat sie zu abstrakten Bildern gemacht, die sie - in Abwechslung mit Textfragmenten aus der Briefkorrespondenz – auf einer Wand projiziert. Durch diese drei verschiedenen Formen der Übersetzung rekonstruiert Caraco Beziehungen und Zusammenhänge, die ein neues gegenwärtiges Bild einer Vergangenheit erschaffen. Die leeren Rückseiten und die fragmentierten Texte weisen aber auch auf Verlust und Lücke hin.
In der Arbeit Familienfotos befragt Caraco im weitesten Sinne das Medium Fotografie, als dokumentarische Form. Was kann Fotografie überliefern und wie? Welche sind ihre Wahrheitsansprüche und Möglichkeiten? Caraco versteht die Fotografie als Dokument, welches nicht immer leicht lesbar ist. So waren für sie die Fotografien aus dem Nachlass ihres Grossvaters anfangs nicht entschlüsselbar. Die darauf abgebildeten Personen konnte sie weder erkennen noch einordnen. Ausgehend aus gleichem Quellmaterial, in dem Versuch dieses lesbar zu machen, hat Caraco drei verschiedene Formen der Übersetzung erarbeitet, welche die flüchtigen Dokumente mit neuer Konsistenz versehen. Ob sich aus diesen Übersetzungen eine persönliche Vergangenheit zusammensetzen lässt bleibt offen: Handelt es sich nicht doch lediglich um eine konstruierte Wirklichkeit, eine Fiktion? An diesem Punkt stossen wir wieder auf ein von Hito Steyerl ans Licht gebrachtes Paradox: «Der Zweifel an ihren Wahrheitsansprüchen macht dokumentarische Bilder nicht schwächer sondern stärker».
Text: Irene Grillo, 2013