Plakat, Ablagerung 2013
Ablagerung
Audiostück; Begegnungen, die keine sind, 2013
Ablagerung (2013)
Ortspezifische Installation im Spitzengeschäft Caraco 2013:
Audioarbeit: Begegnungen, die keine sind, 13' 12'' im Loop
Reisebericht: Fremde Erinnerungen, Laserprint
Videos auf acht Monitoren, Hinterräume, HD 16:9, unterschiedliche Abspieldauer im Loop
Das Spitzenwarengeschäft «Caraco» ist Ausgangs- und Endpunkt für Françoise Caracos ortsspezifische Installation «Ablagerung». Im Jahr 1914 von ihrem Urgrossvater Isaac Caraco, einem jüdischen Kaufmann aus dem damaligen Konstantinopel, in Basel eröffnet, ging es später an ihren Grossvater Robert über. Noch heute gehört die Liegenschaft an der Gerbergasse 77 der Familie Caraco. Die Arbeit «Ablagerung» ist ein künstlerischer Eingriff, der bei der Suche nach der eigenen Geschichte an einem Schauplatz der Familiengeschichte ansetzt. Sie besteht aus Audiofragmenten («Begegnungen, die keine sind»), einem Reisebericht («Fremde Erinnerungen») und Videos («Hinterräume») im Schaufenster auf Seite der Falknerstrasse.
Geschichte spielt im Raum und in der Zeit. Das Spitzenwarengeschäft «Caraco» legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Während das Gerüst der Zeit fast wie von selbst Erzählungen erzeugt und Ordnung schafft, gebietet der Ort in dieser Hinsicht Widerstand. Alles, was war und ist, erscheint hier auf einen Schlag. Was ist, ist nach allen Seiten offen, es herrscht die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit. Darauf verweisen die acht Videos der Arbeit «Hinterräume».
Einige Kartonschachteln Archivmaterial hat die Künstlerin geöffnet, sie haben Briefe und Fotografien, Kassenbelege und wertvolle Spitzen zutage gebracht. Viele Schachteln aber bleiben gestapelt und ungeöffnet. Es sind Ablagerungen, die als Zeichen vergangener Zeiten ins Heute hineinreichen. Dass ihre Oberflächen staubig bleiben, nimmt ihnen nicht ihre Bedeutsamkeit. Wie man sich selbst nie abschliessend und nur erzählend erfassen kann, so weist jede Ahnenforschung und Geschichts-schreibung Lücken auf. Wo etwas in Erfahrung gebracht wird, geht anderswo ein neues unbekanntes Feld auf.
Die ungeöffneten Archivschachteln stehen stellvertretend für dieses Nichtwissen. Kein Leben und kein geschichtlicher Zusammenhang lässt sich mimetisch erzählen – nur schon, weil dann die Erzählung genau so lange dauern müsste wie das Leben selbst oder eine Ereignisfolge an sich. Erst die Auslas-sungen und Hervorhebungen zeigen etwas vom Selbst oder vom Früher. Françoise Caracos Installation legt die Vermutung nahe, dass die erzählerische Konfiguration in diesem Zusammenhang als Bedingung für Wahrhaftigkeit gelten kann.
Jede Suche nach der eigenen Geschichte hat mit Versäumnissen und Unausgesprochenem umzugehen. Von dieser Erfahrung sprechen der Reisebericht «Fremde Erinnerungen» und die Audiofragmente «Begegnungen, die keine sind». Für den Reisebericht ist die Künstlerin mit Familienfotos aus dem Jahr 1935, die den Geburtsort Ortaköy ihres Urgrossvaters zeigen, in die Türkei gereist. Das Vorhaben, den Fotografien entsprungene Vorstellungen mit der Erfahrung vor Ort anzugleichen, verliert in Ortaköy seine Selbstverständlichkeit. Die Konfrontation macht aus der Suchenden eine Besucherin, die nach-drücklich bemerken muss, dass es Fremdes in ihrer Geschichte gibt, das fremd bleiben wird.
Ähnlich verhält es sich mit dem Versuch, ein Gespräch mit der Verwandtschaft aufzunehmen. In «Begegnungen, die keine sind» verweben sich Korrespondenzfetzen, die ihr Urgrossvater und Gross-vater hinterlassen haben, mit dem zaghaften Austausch unter den lebenden Familienmitgliedern.
Der fragmentarische Charakter der Audioaufzeichnung verweist auf Lücken, ohne die eine Erzählung nicht auskommen kann. Die eigentliche Kraft der Erzählung, Erfahrungen der Dissonanz zu glätten, Übergänge und Unverstandenes zu plausibilisieren, wird in Françoise Caracos Installation jedoch nicht eingesetzt. Damit steht ihre Suche nach der eigenen Geschichte auch für ein generelles Un-vermögen, das jeden Blick zurück und auf sich selbst mitbestimmt.
In Françoise Caracos Arbeit «Ablagerung» ist es nicht eine kohärente Erzählung, die den Zusammen-hang aufrecht erhält, sondern die Räumlichkeiten des Spitzenwarengeschäfts «Caraco» an sich – als Drehscheibe der Geschichte.
Text: Alain Gloor
Reisebericht, Fremde Erinnerungen, 2013